
Oslo, 1. September 2022. Noch vor fünf Jahren steckte der norwegische Schienengüterverkehr in einer tiefen Krise. Die Gütertonnagen gingen ständig zurück. Die staatliche Cargo Net stricht immer mehr Güterzüge und sprach von der drohenden Betriebseinstellung. Der Staat sah sich gezwungen, den Güterbahnen über zwei Jahre mit Finanzspritzen das Überleben zu sichern. Diese finanzielle Unterstützung in der Krisenzeit erweist sich heute als richtig für die nachfolgende Trendwende. Von 2020 bis 2021 betrug das Wachstum des Güterverkehrs auf der Schiene zwölf Prozent.
In den ersten sechs Monaten dieses Jahres hat sich das Wachstum fortgesetzt und beträgt acht Prozent im Vergleich zum ersten Halbjahr des Vorjahres. Der Spitzenreiter ist die Dovrebanen von Oslo nach Trondheim mit plus 17 Prozent. Für 2023 haben die Speditionen eine weitere Steigerung der Cargovolumina von 30 Prozent angemeldet.
Besonders hervorgehoben werden muss die neugegründete Güterbahn Onrail. Nachdem sowohl Cargonet als auch die inzwischen abgewickelte Cargolink sowie die schwedische Green Cargo sich erfolglos am Containerzug von Åndalsnes über die Raumabanen nach Oslo Alnabru versucht hatten, gelang es Onrail 2021 mit minimalem administrativem Aufwand, diesen Containerzug zu reaktivieren und eine hohe konstante Nachfrage sicherzustellen. Der Schlüssel zu diesem Erfolg ist die enge Kundenbeziehung. Doch auch die staatliche Cargonet ist innovativ und transportiert früher gänzlich auf der Straße beförderten Fisch der Helgelandskysten vom Bahnhof Mosjøen nach Süden. Das Güter auf der Bahn weit umweltfreundlicher als per LKW sind versteht sich von selbst. Zudem wird besonders auf den engen norwegischen Straßen die Verkehrssicherheit erhöht. Ein Güterzug befördert mindestens soviel wie 30 LKW-Fahrten. Im Jahr 2021 gab es auf norwegischen Straßen 76 tödliche Unfälle. An fast der Hälfte waren schwere Fahrzeuge beteiligt.
Der erfreulichen Entwicklung sind allerdings Grenzen gesetzt. In Norwegen sind die meisten Eisenbahnlinien einspurig. Schnellzüge, Regionalzüge und Güterzüge müssen Kreuzungen und Überholungen abwarten. Die Abschnitte des Streckenblocks erstrecken sich häufig über viele Kilometer, weshalb nachfolgende Züge lange auf freie Fahrt warten müssen. Zu wenige Kreuzungsstationen bedeuten lange Wartezeiten auf die Gegenzüge, womit sich die Verspätungen übertragen. Darüber hinaus gelten Güterzüge in Europa als die unterste Kategorie, die den Reisezügen den Vorzug überlassen müssen. Seit zehn Jahren wird das norwegische Schienennetz mit massiven Mitteln ausgebaut, jedoch erfordern die Verbesserungen bis zur Inbetriebnahme lange Bauzeiten.
Jürg Streuli, Fachjournalist
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