Vertrauen der Norweger in die Zukunft stark gesunken – Nordische Botschafter diskutieren über soziale Bindungen

Die Botschafter der fünf nordischen Länder im Felleshus in Berlin, v.l.: Per Thöresson, Schweden, Susanne Hyldelund, Dänemark, María Erla Marelsdóttir, Island, Moderator Clemens Bomsdorf, Anne Sipiläinen, Finnland, und Torgeir Larsen, Norwegen.©BPN

Oslo, 15. November 2022. Gestiegene Preise und höhere Zinsen haben in Norwegen in diesem Jahr zu erheblichen Mehrausgaben für die Haushalte geführt. Besonders betroffen sind Alleinerziehende und Familien mit Kindern. Wie die norwegische Statistikbehörde SSB mitteilt, sind die Ausgaben der Haushalt im Durchschnitt um 27.000 NOK gestiegen. Das hat dazu geführt, dass das wirtschaftliche Zukunftsvertrauen der Norweger, das der Verband Finans Norge quartalsweise im Erwartungsbarometer misst, im vierten Quartal so gering ist wie seit 1992 nicht mehr. Am 11. November diskutierten die Botschafter der nordischen Länder gemeinsam mit Wissenschaftlern und Vertretern verschiedener Stiftungen in Berlin die Frage: „Ein Winter voller sozialem Sprengstoff? Wie wir die sozialen Bindungen unserer Gesellschaft stärken können“. Die Keynote hielt Dr. Kai Unzicker von der Bertelsmann-Stiftung.

Das Erwartungsbarometer misst die Erwartungen der norwegischen Haushalte an die eigene und an die Wirtschaft des Landes. Es besteht aus fünf Einzelindikatoren, die zu einem Hauptindikator kombiniert werden. 

Der Hauptindikator des Erwartungsbarometers – bereinigt um saisonale und zufällige Schwankungen. Vom Start der Messungen 1992 bis zur letzten Messung im 3. Quartal 2022

Die negative Stimmung sei breit verteilt, unabhängig davon, in welche Variablen die Antworten aufgeschlüsselt werden: Alter, Einkommen, Bildung, Geschlecht und Geografie. Dies spiegele sich auch im Vergleich mit der EU wider. Normalerweise sind norwegische Verbraucher viel optimistischer als Haushalte in der EU, aber im vierten Quartal seien die Erwartungen fast so negative wie bei den Verbrauchern in der EU. Das Barometer der EU zeigt -40,5, während das norwegische Barometer -38,0 anzeigt, so Finans Norge. In der gesamten 30-jährigen Geschichte des Erwartungsbarometers habe es noch nie einen größeren Wunsch gegeben, Geld zu sparen. Diesbezüglich mache der Indikator einen Sprung von 22,3 auf 30,5, teilt Finans Norge mit.

Jüngste Zahlen von Statistics Norway zeigen , dass gestiegene Preise und Zinsen das ganze Jahr über dazu geführt haben, dass Haushalte im Durchschnitt 18.000 NOK weniger zum Leben haben. Die Mehrausgaben von 27.000 NOK verteilen sich grob wie folgt:

  • Erhöhter Zinsaufwand: Ca. 8.000 NOK
  • Mehrkosten für Strom: Ca. 3.700 NOK
  • Erhöhte Ausgaben für Treibstoff: Ca. 2.800 NOK
  • Mehrausgaben für Lebensmittel: Ca. 1.700 NOK
  • Mehraufwand sonst: Ca. 11.000 NOK.

Auch das Einkommen steigt in diesem Jahr um 9.000 NOK. Dies ist auf eine Erhöhung der Löhne und Renten, gestiegene Zinserträge und reduzierte Steuern (infolge gestiegener Zinsaufwendungen) zurückzuführen.  „Dies bedeutet, dass das Einkommen nach Steuern, das ein durchschnittlicher Haushalt für 2022 erwartet hatte, infolge von Preis- und Zinserhöhungen um 18.000 NOK niedriger geworden ist“, sagt Thor Olav Thoresen von Statistic Norway.

Setzt man die Mehrausgaben ins Verhältnis zum Einkommen der Haushalte nach Steuern (verfügbares Einkommen), verlieren die Haushalte mit niedrigem Einkommen etwas mehr als die übrigen Haushalte. Auch Alleinerziehende und Paare mit Kindern wurden durch die Mehrausgaben stärker belastet als der Durchschnitt der Haushalte. Die Verringerung des verfügbaren Einkommens beträgt 3,5 bzw. 3,1 Prozent gegenüber 2,7 Prozent im Durchschnitt aller Haushaltstypen. „Der Hauptgrund, warum viele Familien mit Kindern die erhöhten Ausgaben etwas stärker spüren als andere, sind erhöhte Zinsausgaben. Viele Familien mit Kindern seien in einer Gründungsphase mit hohen Hypotheken“, erklärt Thoresen.

Betrachtet man stattdessen die in absoluten Kronen gemessenen Veränderungen, so fällt der Ausgabenanstieg bei Haushalten mit hohem Einkommen deutlich stärker aus. Dies erklärt sich vor allem dadurch, dass Haushalte mit hohem Einkommen im Durchschnitt mehr Kredite aufnehmen und somit durch gestiegene Zinsen einen deutlichen Anstieg der Zinsaufwendungen erfahren.

Die Ausgaben für Strom haben sich bei den Haushalten in den südlichen Landesteilen deutlich stärker verändert als in den nördlichen. Betrachtet man die Haushalte in den südlichen und nördlichen Stromzonen getrennt, so ergibt sich ein relativ großer Unterschied in der berechneten Nettoausgabensteigerung (bundesweit durchschnittlich 18.000). Im Durchschnitt schätzen die Berechnungen eine Nettozunahme der Ausgaben für Haushalte in den südlichen Stromzonen auf etwa 20.000 NOK und eine Nettozunahme der Ausgaben für Haushalte in den nördlichen Stromzonen von 14.000 NOK.

In der von Norwegen initiierten Veranstaltung zum sozialen Zusammenhalt in Krisenzeiten am 11. November in den Nordischen Botschaften in Berlin erläuterte Botschafter Torgeir Larsen, die aktuelle Entwicklung Strompreise in Norwegen. Sie seien momentan das am meisten diskutierte Thema. Im Süden des Landes seien die Preise teilweise um 300 Prozent gestiegen. Tageweise waren die Strompreise in Norwegen insgesamt dreimal höher als in der EU. Die Entwicklung der Strompreise habe sich zu einer politischen Frage entwickelt, wobei es für die Politik schwierig sein, darauf Antworten zu finden, da die Politik keinen Einfluss auf das Wetter habe, denn in erster Linie habe in diesem Jahr eine große Trockenheit in Norwegen zu den hohen Preisen geführt. Die Politik müsse nun Wege finden, die Haushalte wirtschaftlich zu unterstützen. Einige Maßnahmen seien bereits umgesetzt worden.

Auch die Botschafter der anderen nordischen Länder sehen in der hohen Inflation eine Herausforderung für die Politik. Zudem beschäftige die Klimawende die Menschen im Norden. In Island, so Botschafterin María Erla Marelsdóttir, steht das Thema Gleichstellung im Mittelpunkt der öffentlichen Debatte. Es sei wichtig, dass auch in diesen Krisenzeiten Fragen nach der Gender Pay Gap nicht aus dem Auge verloren werden. Finnlands Botschafterin Anne Sipiläinen berichtete von einem großen Vertrauen, dass die finnische Bevölkerung in die Regierung und die Behörden habe. Der Überfall Russlands auf die Ukraine habe das Vertrauen in die Behörden weiter erhöht. Seien bis zum Angriff Russlands nur 20 bis 25 Prozent der Finnen für einen NATO-Beitritt gewesen, so lag die Zahl im Mai dieses Jahres bei 80 Prozent.

Schweden übernimmt am 1. Januar 2023 die EU-Ratspräsidentschaft. Die Themen, die Schweden auf die Agenda ihrer Ratspräsidentschaft gesetzt hat, werden ähnlich sein wie in diesem Jahr, erklärt Botschafter Per Thöresson: Energie, Inflation, Unterstützung der Ukraine, Klimawandel, Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit. Besonders stolz sei er auf die Tatsache, dass 85 Prozent der Schweden den Ausbau der Unterstützung der Ukraine befürworten. In der EU sind es 60 Prozent.

Für Dänemark sieht Botschafterin Susanne Hyldelund drei verschiedene Wellen, die die Gesellschaft maßgeblich beeinflusst haben: In den 1990er Jahren die Globalisierung, ab 2000 die Migration und jetzt die Ungleichheit zwischen Stadt und Land. Die Herausforderung bestehe nun darin, die Probleme zu lösen, aber keine Polarisierung zuzulassen.

Am 15. November hat Norwegens Regierung angekündigt, eine Nationalen Strategie für Lebensqualität zu erarbeiten. Rahmenbedingungen und Richtlinien für die Arbeit an der Strategie sollen Teil des Public Health Reports sein, ein Bericht, der im Frühjahr erstellt wird. Die Lebensqualitätsstrategie der Regierung werde daher nach Prüfung des Gesundheitsberichts im Storting auf den Weg gebracht, sagt Gesundheits- und Pflegeministerin Ingvild Kjerkol.

In das Maß der Lebensqualität sollen Faktoren wie Gesundheit, soziale Beziehungen, Arbeitsumfeld bzw. studentisches Umfeld, Lebensumstände und das Erleben sozialer Verhältnisse einfließen.

Immer mehr Länder nutzen die Lebensqualität der Bevölkerung als ergänzenden Maßstab für die gesellschaftliche Entwicklung. Als erstes Land der Welt hat Neuseeland 2019 ein „Wellbeing Budget“ aufgelegt, einen Staatshaushalt mit dem Ziel, die Lebensqualität der Bevölkerung zu steigern. Schottland, Island, Finnland und Wales treten beim Übergang zu einer „Wellbeing Economy“ in die Fußstapfen Neuseelands. In der nordischen Region ist insbesondere Island auf einem guten Weg zur „Wellbeing-Gesellschaft“.

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