Norwegen –Vorposten der NATO im Hohen Norden

Interview mit Kapitän zur See Fredrik Bassøe Borgmann, Militärattaché der Königlich Norwegischen Botschaft in Berlin

Am 30. Oktober und 1. November findet in Berlin die Berlin Security Conference statt, die erste Zusammenkunft hochrangiger Politiker und Militärs nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine. Norwegen ist Partnerland der Konferenz. Dementsprechend wird die Verteidigungsstrategie der NATO im Norden Europas im Mittelpunkt der Veranstaltung stehen. BusinessPortal Norwegen sprach mit Kapitän zur See Fredrik Bassøe Borgmann, Militärattaché der Königlich Norwegischen Botschaft in Berlin, über die Sicherheitspolitik des Landes und die Verantwortung, die Norwegen innerhalb der NATO für die Verteidigungsfähigkeit des Bündnisses im Norden übernommen hat. BusinessPortal Norwegen ist Medienpartner der Konferenz.

Norwegens Regierung versetzte seine Streitkräfte am 1. November in erhöhte Bereitschaft. Fühlt sich Norwegen in der aktuellen Situation stärker von Russland bedroht als andere Länder?

Fredrik Bassøe Borgmann: Russland ist im Moment die größte Bedrohung für Norwegen. Um das zu verstehen, reicht ein Blick auf die Landkarte. Wir haben ganz im Norden eine relativ kurze gemeinsame Landgrenze mit Russland, aber eine riesige Meeresgrenze. Unmittelbar neben unserem Territorium befindet sich in etwa einhundert Kilometer Entfernung auf der russischen Halbinsel Kola die russische Nordflotte mit ihren Atom-U-Booten. Hier ist ein großer Teil des gesamten russischen Nuklearpotenzials stationiert. Außerdem gibt es auf der Halbinsel mehrere russische Luftwaffenstützpunkte.

Alle U-Boote können frei in internationalen Gewässern operieren. Diese Atom-U-Boote können also nach internationalem Recht problemlos durch unsere Interessengebiete nach Westen fahren, zum Beispiel Richtung Großbritannien und weiter über den Atlantik Richtung USA. Es ist im Interesse der NATO zu wissen, wo diese U-Boote sind. Und dazu muss man berücksichtigen: Während die russischen Landstreitkräfte in der Ukraine doch einen sehr schlechten Eindruck machen, sind die russische Marine und die Luftstreitkräfte gut aufgestellt. Das beunruhigt uns nach dem russischen Angriff auf die Ukraine natürlich extrem. Russland hat sich bisweilen einer scharfen Rhetorik bedient, dazu gehörte auch, dass mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht wurde. 

©Kartverket.no

Wie reagiert Norwegen darauf?

Fredrik Bassøe Borgmann: Wir müssen wissen, wo sich die Atom-U-Boote aufhalten und welche Routen sie nehmen. Unsere Aufgabe als NATO-Mitglied besteht in erster Linie darin, das Meeresgebiet zu überwachen, durch das die U-Boote Richtung Atlantik fahren. Wenn die U-Boote aus den russischen Häfen auslaufen, müssen sie erst einmal durch sehr flaches Wasser, wo es leichter ist, sie aufzuspüren. Wenn sie erst einmal weiter im Westen in tieferen Gewässern verschwunden sind, ist es schwerer, sie zu finden. Das ist ein extrem schwieriges Unterfangen, denn die U-Boote der Russen sind sehr modern und sehr leise. Zusammen mit der NATO nutzen wir alle Möglichkeiten – zum Beispiel Flugzeuge, Fregatten und U-Boote. 

Die Anstrengungen, die wir zur Überwachung der nördlichen Gebiete unternehmen, sichern nicht nur Norwegen, sondern das gesamte Bündnis. Norwegen ist die nördliche Flanke der NATO.

Das schafft Norwegen aber nicht allein.

Fredrik Bassøe Borgmann: Nein, natürlich nicht. Wir werden von unseren Bündnispartnern unterstützt. Für ein kleines Land wie Norwegen mit so großen Meeresgebieten ist der Aufwand enorm. Dies muss gemeinsam bewältigt werden. Fragen Sie jetzt nicht, wie wir die U-Boote verfolgen. Das ist eines der am besten gehüteten Geheimnisse. Aber das Engagement ist sehr wichtig für die NATO, und es erfordert umfangreiche Ressourcen in Form von Schiffen und Flugzeugen. Wir sind gut im Aufspüren von U-Booten, aber Norwegen braucht mehr Schiffe und Flugzeuge, um die Aufgabe ordentlich zu erledigen.

Ist die Lage so ernst?

Fredrik Bassøe Borgmann: Es gibt aktuell keine Anzeichen dafür, dass Russland den Konflikt auf den Norden oder überhaupt auf das Gebiet der NATO ausdehnen will. Aber wir dürfen auch nicht naiv sein. Die nördlichen Gebiete sind für Russland wichtig. Wir müssen auf jede Möglichkeit vorbereitet sein.

Mit dem Beitritt Schwedens und Finnland zur NATO hat das Verteidigungsbündnis eine 1.400 Kilometer lange zusätzliche Grenze mit Russland. Norwegen bekommt damit ein Hinterland. Wie verändert das die strategische Position Norwegens?

Fredrik Bassøe Borgmann: Mit dem Beitritt Schwedens und Finnlands zur NATO muss sich das gesamte strategische Denken bezüglich der Verteidigung der nördlichen Gebiete ändern. Nachschub und militärische Verstärkung für Norwegen muss auf dem Seeweg erfolgen.

Der Atlantik und die Norwegische See sind für die transatlantischen Versorgungslinien von entscheidender Bedeutung. Diese Versorgungslinien müssen geschützt werden. Aber es ist nicht mehr nur Norwegen, das gestärkt und versorgt werden muss. Wenn Schweden und Finnland der NATO angehören, müssen auch diese Länder unterstützt werden. Hierfür bietet sich in erster Linie der Weg über das Meer und über Norwegen an. Mit Schweden und Finnland eröffnen sich auch neue Möglichkeiten für die Versorgung des gesamten Ostseeraums. Die Ostsee ist sehr flach. U-Boote werden hier schnell entdeckt. Im Gebiet um Kaliningrad, wo Minen lagern und Langstreckenraketen stationiert sind, sind Operationen eine große Herausforderung für die NATO. 

Als Aufmarschgebiet für die gesamte Nordflanke der NATO werden die Ereignisse in der Ostsee und im Baltikum Auswirkungen auf Norwegen haben. Gleichzeitig rückt der Atlantik näher an Schweden, Finnland und Deutschland heran.

Bisher gibt es keine Stützpunkte der NATO in Norwegen. Wird sich das jetzt ändern?

Fredrik Bassøe Borgmann: Nein, das wird sich nicht ändern. Die Politik der Regierung ist klar: Die Bündnispartner werden nicht dauerhaft in Norwegen stationiert sein. Norwegen führt keine Übungen gemeinsam mit der NATO in der Nähe der Grenze zu Russland durch. Weder Russland noch unsere NATO-Verbündeten haben uns je darum gebeten. Norwegen will in den nördlichen Gebieten berechenbar sein.

Anstelle von ständigen NATO-Stützpunkten führen wir jährlich große NATO-Übungen durch. 

Warum will Norwegen keine NATO-Stützpunkte im Land?

Fredrik Bassøe Borgmann: Wir sind einer der Gründerstaaten der NATO und eines des wenigen Länder mit einer Grenze zu Russland. Unser Credo für dieses Gebiet lautet: Low tension but high attention – wenig Spannungen, aber hohe Aufmerksamkeit. Wir wollen ausbalancieren, wo immer es möglich ist. Dass wir in unseren Gewässern und auf unserem Territorium gemeinsam mit unseren Bündnispartnern agieren, ist normal. Aber wenn wir viele Bündnispartner nach Norwegen holen, verstärkt das die Spannungen. Und wir wollen keine Spannungen hervorrufen. 

Wie ich schon sagte, haben sowohl der Chief of Defence als auch der Chef unseres Bundesnachrichtendienstes bestätigt, dass die militärischen Aktivitäten im Norden Russlands nach dem Angriff auf die Ukraine nicht zugenommen haben. Das riesige Atomarsenal war schon hier – es ist nichts Neues hinzugekommen. Wir gehen davon aus, dass auch die Russen keine Eskalation wollen. 

Norwegen hat es trotz aller Spannungen geschafft, die gute Zusammenarbeit mit Russland im Bereich Fischerei fortzusetzen. Kann man diese Zusammenarbeit auf andere Bereiche ausdehnen? Welche Rolle spielt Diplomatie in dieser kriegerischen Zeit?

Fredrik Bassøe Borgmann: Mit Hilfe der Diplomatie möchten wir eine friedliche Lösung erreichen. Wir sind Nachbarn, und das werden wir immer sein. Wir werden immer auf irgendeine Art und Weise mit Russland zu tun haben müssen. Wir sind im Gespräch – nicht auf politischer Ebene, sondern dort, wo wir zusammenarbeiten müssen: in den Bereichen Fischerei, Ressourcen schonende Bewirtschaftung des Meeres und Suche und Rettung auf See. Das ist wichtig für beide Seiten. 

Wie bewerten Sie die Drohnenaktivitäten russischer Staatsbürger in Norwegen? 

Fredrik Bassøe Borgmann: Das ist schwierig zu beantworten. Ich weiß nicht, was das für Leute sind. Die Behörden gehen diesen Fällen nach.

Ich weiß aber, dass wir nicht mehr naiv sein dürfen. Wir haben 9.000 Kilometer Gaspipelines, die nach Europa und Großbritannien führen. Darüber hinaus gibt es wichtige Förderplattformen für Öl und Gas auf dem Meer und wichtige Anlagen auf dem Festland. Diese kritische Infrastruktur müssen wir gut schützen. Was mit Nord Stream passiert ist, kann auch mit unseren Leitungen passieren – mit sehr schwerwiegenden Folgen. 

Ist Deutschland in den Schutz der Gasinfrastruktur involviert? Immerhin würde ein Anschlag auf die norwegischen Gaspipelines die Deutschen besonders hart treffen.

Fredrik Bassøe Borgmann: Gasinfrastruktur ist ein sensibles Thema. Die Streitkräfte sind normalerweise nicht für den Schutz der kritischen Infrastruktur zuständig. Das ist Aufgabe der Polizei, sowohl in Norwegen als auch in anderen Ländern. Aber die Polizei hat die Streitkräfte um Hilfe gebeten. 

Momentan sind viele Akteure zum Schutz der Infrastruktur vor allem in der Nordsee im Einsatz: Die Unternehmen sorgen gemeinsam mit der Polizei und den norwegischen Streitkräften intensiv für die Sicherheit ihrer Anlagen. 

Auch einige Schiffe der NATO und der meisten Nordsee-Anrainerstaaten sind in dem Gebiet, in dem die Pipelines liegen, unterwegs. Sie patrouillieren, sind präsent und leisten somit gute Arbeit. Dafür sind wir Deutschland sehr dankbar.

In Deutschland ist der technische Zustand der Bundeswehr ein großes Thema. In welchem technischen Zustand befindet sich die norwegische Armee? 

Fredrik Bassøe Borgmann: Was wir haben ist gut, vor allem die personelle Ausstattung. Aber wir haben zu wenig. Norwegen hat wenige Landstreitkräfte und eine zu kleine Marine. Wenn in dem beschriebenen sensiblen Meeresgebiet im Norden etwas passiert, werden wir das nicht allein aufhalten können. Unter anderem deswegen sind wir in der NATO. Aber auch die NATO muss besser ausgerüstet werden. Das ist uns mit dem Ukraine-Krieg klar geworden. Vor allem brauchen wir eine größere Luftverteidigung. 

Heißt das, Norwegen wird nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine kräftig in den Ausbau seiner militärischen Verteidigung investieren?

Fredrik Bassøe Borgmann: Alle vier Jahre legt die norwegische Regierung ein White Paper zur weiteren Entwicklung der norwegischen Streitkräfte vor. Gegenwärtig werden Studien für das Verteidigungsministerium erarbeitet, die die notwendigen Investitionen beziffern. Anfang 2024 wird die Regierung eine Entscheidung über die weitere Entwicklung der Streitkräfte treffen. Ich hoffe, dass der Verteidigungshaushalt deutlich erhöht wird.

Norwegen hat herausragende transatlantische Beziehungen im Militärbereich. Woher rühren diese guten Beziehungen zu den USA und wo liegen die Schwerpunkte der Zusammenarbeit zwischen Norwegen und den USA im Militärbereich?

Fredrik Bassøe Borgmann: Für Norwegen sind die USA der wichtigste Bündnispartner. Wir haben in der Tat sehr enge Beziehungen. Das hat mit unserer geostrategischen Lage nahe Russland und mit unserer Überwachung der maritimen Aktivitäten im Norden Europas zu tun. 

Die U-Boot-Aktivitäten der Russen beunruhigen die USA nämlich nicht nur als NATO-Partner. Sie sind für die USA von nationalem Interesse. So haben wir neben unserer NATO-Vereinbarung auch ein bilaterales Abkommen über militärischen Beistand.  

Deutschland und Norwegen haben eine einzigartige Kooperation zur gemeinsamen Beschaffung von sechs baugleichen U-Booten. Gibt es Anschlusspläne? 

Fredrik Bassøe Borgmann: Der U-Boot-Deal, zu dem auch der gemeinsame Bau von Langstreckenraketen und die gemeinsame Wartung gehören, ist in der Tat ein außergewöhnlicher Vertrag, der als Vorlage für weitere Kooperationen dienen sollte. Er ermöglicht eine enge Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich. Besatzungen können beispielsweise problemlos ausgetauscht werden.  

Es ist keine Frage des Willens – ich denke, alle Nato-Mitgliedsstaaten müssen bei der Beschaffung enger zusammenarbeiten. Norwegen und Deutschland haben gezeigt, wie das geht. Und wir werden die Zusammenarbeit fortsetzen. Es gibt einige Beispiele dafür, dass wir baugleiche Ausrüstung beschaffen: Kampfflugzeuge des Typs F35 oder Aufklärungsflugzeuge vom Typ P8 Poseidon. Das bringt unsere Länder innerhalb der NATO noch näher zusammen.

Es geht aber nicht nur um die technische Ausrüstung. Deutschland ist unser wichtigster Partner in Europa. Durch die Zeitenwende will Deutschland hoffentlich mehr Verantwortung für die Sicherheit Europas übernehmen. Das eröffnet mehr Möglichkeiten zur Zusammenarbeit mit Norwegen und dem Norden insgesamt.

Bisher hat Deutschland den Blick vor allem nach Osten gerichtet, nach Polen, Russland, Belarus. Als Nachbar und auch aus historischen Gründen fühlt sich Deutschland verantwortlich für dieses Gebiet wie auch für den Balkan. Dementsprechend ist es vom Krieg in der Ukraine auch besonders betroffen. Anders der Westen Europas: Je weiter diese Länder von der russischen Grenze entfernt sind, um so mehr verändert sich die Sicht auf die Bedrohung aus dem Osten.

Deutschland muss sich darum kümmern, dass sich diese Länder stärker für das interessieren und engagieren, was im Osten und im Norden Europas geschieht. 

Wo sehen Sie neben der Aggressivität Russlands weitere große Bedrohungen?

Fredrik Bassøe Borgmann: Wir haben den Klimawandel und die Flüchtlingskrise. Das sind keine militärischen Bedrohungen. Aber die Folgen können zu militärischen Konflikten führen, wenn es durch die Erderwärmung beispielsweise immer mehr Flüchtlinge gibt.

Und wir haben die Herausforderung mit China. Nicht jeder teilt die westliche Sicht auf die Welt. Nicht alle Länder wollen wie der Westen sein. Die Frage ist, ob wir das akzeptieren und gemeinsam Lösungen finden, oder ob wir es als Problem sehen.

Wenn man die Dinge nur aus der eigenen Perspektive betrachtet, ist man blind. 

Bundeskanzler Olaf Scholz hat bei seinem jüngsten Besuch in Peking gezeigt, wie man mit der Situation umgehen kann. Es ist möglich, mit China zusammenzuarbeiten, aber man darf sich nicht abhängig machen. 

Ich glaube wirklich an das westliche Weltbild, aber wir brauchen einen realistischen Blick auf die Welt. Nach dem Fall der Mauer war der Westen naiv. Das ist vorbei. Aber ich glaube an den freien Handel, wenn er eine Win-Win-Situation schafft. 

Was erwarten Sie von der Berlin Security Conference?

Fredrik Bassøe Borgmann: Es ist die erste Sicherheitskonferenz nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine. Schon deshalb kommt diesem Treffen eine besondere Bedeutung zu. Hauptakteure aus Militär und Politik werden hier ihre Überlegungen austauschen, wie mit der aktuellen Situation umzugehen ist.

Ich hoffe, wir wachen auf. Wir waren in der Vergangenheit naiv. Wir müssen uns mehr auf die Sicherheit in Europa konzentrieren. Zwei Prozent des BIP und viel Geld für die Streitkräfte sind nur Zahlen. Mehr Geld für den Verteidigungshaushalt ist wichtig, aber es muss auch ein Umdenken stattfinden, sowohl in der Politik als auch in der Bevölkerung. 

Die Konferenz legt ihren Schwerpunkt auf den Norden und den Beitritt Schwedens und Finnlands zur NATO. Um einschätzen zu können, was dieser Beitritt konkret bedeutet, müssen alle Akteure ihre Kenntnisse über die aktuelle Situation im Norden erweitern. Wie ich schon sagte: Die Einschätzung der Bedrohung ändert sich, umso weiter ein Land von der russischen Grenze entfernt ist. Unser Ziel ist es, mehr Wissen aus der nordischen Perspektive zu vermitteln. Hoffentlich gelingt uns das.

Vielen Dank für das Gespräch. 

Das Interview führte Jutta Falkner.

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