
Der Mann spricht Englisch mit skandinavischem Akzent, sein wirklicher Name wird nicht genannt, er hat die Jagdlizenz für einen Wolf, der in der Region Østfold zum Abschuss freigegeben ist. Als einflussreicher Klient einer Londoner Anwaltskanzlei mit Verbindungen nach Oslo hat er davon gehört und ist nun mit seinem norwegischen Begleiter nahe der schwedischen Grenze unterwegs, Norwegen ist kein gutes Land für Wölfe. Der Fremde erlegt den Wolf entgegen der Vorschrift mit Pfeil und Bogen. Fotos und Trophäe verschmäht er, ihm geht es um das Blut des Wolfes. Was will er wirklich? Und warum folgt ihm ein Mitarbeiter mit einer Nachricht nachts bis in den Wald und ruft ihn nach Oslo?
Was die junge samische Psychodramatikerin Sara aus der Finnmark nach Oslo ruft, ist dagegen kein Geheimnis. Ihr Bruder, ein Aktivist für die Bewahrung der samischen Kultur, der die Traditionen seines Volkes studierte, um sie wiederzubeleben, ist in einer Messerstecherei getötet worden. Sara vermutet Mord aus politischen Gründen und macht sich auf die Suche nach dem Täter. Sie findet Unterkunft in einer Künstler-WG in Grünerløkka und Beschäftigung in der Begegnungsstätte „Arche“. Es dauert nur zwei Tage, bis sie mit Mythen konfrontiert wird, die zwar nicht ihrer samischen Glaubenstradition entspringen, aber mit den alten nordischen Göttern verbunden sind, mit den Wikingern, mit den Bildern von Thomas Fearnley, mit Yggdrasil. Und mit dem Tod.
Die Sicht der Sara, in der der Roman überwiegend geschrieben ist, lässt einen tieferen Blick in ihre Gedanken, Gefühle und Farben zu. Farben sind für sie mit Emotionen und Erlebnissen verbunden. Bestimmte Reize lassen in Bruchteilen von Sekunden, in denen sie ihre Umgebung gar nicht wahrnimmt, vergangene Ereignisse in ihrem Hirn ablaufen. Daraus schöpft sie Kraft, die Kraft des Tigers von Oslo, mit der sie sich dem Jäger stellt.
Die Handlung des Kriminalromans ist in der jüngsten Gegenwart angesiedelt, aber sie hat auch etwas Zeitloses. Alltagsleben in Norwegens Hauptstadt kommt vor, tritt aber nicht in den Vordergrund, sondern bildet den Rahmen für Überfall, Einbruch, Entführung. Sara wird mit Ereignissen konfrontiert, die über den Tod ihres Bruders hinausgehen. Wie wird Sara Ekin Persen aus Kautokeino bestehen in der Raubtierstadt?
Bernhard Stäber, der in München geboren ist und seit zehn Jahren in Norwegen lebt, hat viele Jahre in Berlin im sozialpsychiatrischen Bereich gearbeitet. Seine Erfahrungen fließen in die Romangestalten und ihre Gespräche ein. Der Leser wird ebenso wie Sara nach Erklärungen suchen und dadurch in die Spannung der Handlung hineingezogen, jede Begegnung, jedeUnterhaltung führt zu neuen Rätseln. Matthias Voß
Das Buch ist im Acabus Verlag erschienen.